Der Wecker klingelt um vier Uhr morgens, begleitet von
den vier trockenen Schlägen der Kirchenglocke, und reißt mich aus der
Traumwelt, um mich in die reale zurückzuführen. Es dauert einige Sekunden, bis
ich begreife, wo ich bin und warum der Wecker klingelt, während es draußen noch
dunkel ist. Die Wanderung, genau.
Tastend suche ich meine Brille, finde sie, setze sie auf.
In den angrenzenden Räumen höre ich die Wecker der Anderen klingeln, höre
Gähnen, Schritte auf dem knarrenden Holz der Berghütte. Nach wenigen Minuten
wird es belebt: ein Auf und Ab bei den Treppen, altbekannte Stimmen, fremde
Sprachen. Flaschen, Seile, Stirnlampen. “Nichts vergessen?” “Wer steckt die
Äpfel ein?” “Denkt an eure Pässe, wir überschreiten die Grenze!” Wir sind
bereit. Als erste verlasse ich das Haus und werde von der Dunkelheit verschluckt.
Die Luft ist kalt, meine Haut kribbelt.
Ich ziehe die Kapuze meiner blauen Jacke über den Kopf
und beobachte die Silhouette der Alpen. Sie sind beeindruckend, geheimnisvoll,
bedrohlich, stille und starre Riesen. Sie erscheinen mir wie unüberwindbare Mauern
– werde ich heute etwa wirklich dort oben ankommen?
Wir setzen uns ins Auto und
fahren in ein nahe gelegenes Dorf, von dem aus unser Weg beginnt. „Lasst uns
gehen!“ sagt unser Führer, und wir tauchen in den Wald ein.
Die Sonne berührt noch nicht die Gipfel und die ersten
Stunden des Morgens erscheinen noch in den Farben der Nacht. Um nicht über
Steine oder Wurzeln zu stolpern, schalten wir die Stirnlampen ein. Um uns herum
ist der Wald lebendig: Wir hören Geräusche von Tieren, die uns kommen hören und
scheu hinter den Büschen beobachten. Vögelchen singen, es riecht nach nassem
Laub und nach Erde. Unser Führer geht strammen Schrittes auf dem nach oben
führenden Weg voran, als ob er in einer Ebene marschieren würde. Noch mit der
Schläfrigkeit ringend komme ich nur mit Mühe hinterher.
Der Aufstieg ist anstrengend: Ich spüre wie die
Wanderschuhe an meiner Ferse wehtun, die vier Liter Wasser im Rucksack auf
meinen Schultern – der Vorrat für unsere Wanderung – machen meine Schritte
schwer. Allmählich zeigt sich die Sonne an den obersten Berggipfeln. Ich halte
an, um zu schauen, wie die Welt Farbe und Form annimmt. Es ist ein wunderbares
Schauspiel, das ich vorher nie gesehen habe. Staunend bleibe ich einige Minuten
stehen.
“Schnell weiter!” sagen meine hinteren Begleiter, wir
sollten uns mit dem Aufstieg beeilen, bevor die Hitze der Sonne zu drückend
wird.
Richtig, gehen wir weiter.
Langsam erreichen wir die Baumgrenze. Um uns herum gibt
es keine Bäume mehr, nur noch Sträucher, Alpenblumen und Steine. Ich habe mir schon
der Stirnlampe und der Jacke entledigt, die Sonne steht bereits hoch am Himmel,
aber es bläst der Wind, der uns die Kraft ihrer Strahlen nicht spüren lässt.
Endlich machen wir die erste Pause. Nie zuvor erschien
mir das Wasser so frisch zu sein, ein Apfel so saftig und wohlduftend. Während
ich ihn esse, betrachte ich das Panorama und bereue es nicht, die Wärme meines
Bettes um vier Uhr morgens verlassen zu haben. Auch die Anderen essen auf den
Felsen sitzend oder im Gras liegend.
Es ist allerdings noch ein beträchtliches Stück bis zum
Gipfel, so dass wir uns trotz schmerzender Füße und müder Beine wieder auf den
Weg machen. Um halb eins erreichen wir eine Weggabel: Ein Weg führt zu einem
kleinen Dorf hinunter, um von dort wieder in Richtung des Gipfels anzusteigen;
der andere (kaum zu erkennen zwischen Gräsern und Büschen) schlängelt sich den
Berg hoch und scheint eher ein Pfad für Ziegen als ein Wanderweg zu sein. Und
tatsächlich, Ziegen werden hoch über uns sichtbar, sie grasen in aller Ruhe
oder entspannen sich, ausgestreckt auf schwankend erscheinenden Felsen – allein
bei deren Anblick wird mir schwindelig! Plötzlich hören wir inmitten des
Ziegengemeckers eine menschliche Stimme. Wir schauen uns um und erblicken die
Gestalt eines Hirten. Es ist ein junger Bursche von ungefähr sechzehn Jahren,
der ohne den Anschein irgendeiner Anstrengung den steilen Hang hoch und runter
läuft, um die Ziegen zusammenzuführen und zurück ins Tal zu bringen. Peter des
Zeichentrickfilms Heidi kommt mir in
den Sinn, den ich als Kind geschaut hatte. Plötzlich fühle ich mich schwer und
träge: Ihm zusehend scheint es so leicht zu sein, die Hänge hochzusteigen, ich
dagegen hatte bereits große Mühe, dort oben anzukommen, wobei ich bis dahin
recht stolz auf meine Leistung gewesen bin. Wie auch immer. Im Geiste streiche
ich “Hirtin” von der Liste der Berufe, die ich als “Erwachsene” ausüben könnte,
und begrüße ihn. Er grüßt zurück und wir nutzen die Gelegenheit, um ihn über
die Beschaffenheit der Wanderwege auszufragen. Er sagt uns: Der Weg, der nach
unten und dann wieder nach oben führt, ist länger, aber viel leichter und auch
schöner; der andere (der Ziegenpfad also) ist viel kürzer, aber auch
gefährlicher. Darauf verschwindet er leichtfüßig, seine Ziegen ihm hinterher.
Wir schauen uns unsicher an: Was sollen wir tun? Nach einigen Augenblicken des
Zögerns entscheiden wir uns, beinahe einheitlich, das Schicksal auf dem
Ziegenpfad herauszufordern…
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